Montag, 9. November 2020

Das Problem bei den Meinungsverschiedenheiten im Fiqh

Kamāl ad-Dīn al-Udfuwī¹ (gest. 747 n.H.):

„Bei den umstrittenen Rechtsfragen (masāʾil al-ḫilāf), zu denen kein spezifischer und definitiver Text (naṣṣ ḫāṣṣ) vorliegt, der eine von beiden (dazu bestehenden) Rechtsauffassungen begünstigt, ist es angebracht, dass sich für die Erlaubnis (ǧawāz) entschieden wird.“

Aus: Al-Imtāʿ bi-aḥkām as-samāʿ, S. 417 f.

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¹ Al-Udfuwī war ein šāfiʿitischer Jurist aus Ägypten. Sein Lehrer, Abū Ḥayyān Aṯīr ad-Dīn al-Andalusī nannte ihn „das Aushängeschild der Šāfiʿiten“


Das Thema der Meinungsverschiedenheiten muss folgendermaßen beleuchtet werden:


Bei den Themen, bei denen es im Fiqh verschiedene Meinungen gibt, die sich zwischen erlaubt und verboten drehen, gab es unter den Gelehrten der Rechtsmethode (Uṣūl al-Fiqh) und der Rechtslehre (al-Fiqh) schon immer verschiedene Ansätze. Jeder argumentierte mit verschiedenen Beweisen, warum es besser ist, sich nach dem einen oder anderen auszurichten.

Manche Gelehrte legen viel Wert auf den exakten Wortlaut der vorhandenen nicht-eindeutigen Beweise (naṣṣ ẓannī) und es entsteht oft das Missverständnis, dass aus dieser Perspektive betrachtet keine Meinungsverschiedenheit vorhanden wäre und es kommt zu Härte und Ablehnung seitens derjenigen, die diese Ansicht vertreten, gegenüber denjenigen, die einer anderen Meinung folgen oder eine Meinungsverschiedenheit annehmen.

Fakt ist, dass in allen Themen, die nicht EXPLIZIT (qaṭʿī) im Qurʾān oder in der Sunnah geregelt wurden, von damals bis heute zwangsweise eine Meinungsverschiedenheit zu finden sein wird. Und oft ist es so, dass das, was die Laien als explizit verstehen, unter den Gelehrten, aufgrund der feinen Kenntnis über die Sprache und Quellen, nicht als explizit gilt. Die Feinheiten der Rechtssprache und der Rechtsmethodologie müssen daher genau gekannt und beherrscht werden, um adäquate Aussagen treffen zu können.

Deswegen sagte Imām aš-Šāfiʿī in seinem Werk Al-Umm, dass in seiner Zeit eine Reihe von Meinungen vorhanden waren - über die ein Laie heute denken könnte, dass es unmöglich unterschiedliche Meinungen dazu geben kann und diese Dinge klar verboten sein müssten - , dass auch wenn diese Meinungen nach der Ansicht seiner Schule klar abzulehnen sind, die rechtliche Gültigkeit dieser Meinungen nicht angefochten werden kann, da es im Lichte der Meinungsfindung (Iǧtihād) möglich war, diese Sache als nicht-eindeutig zu identifizieren.

Daher ist es nicht unsere Aufgabe, uns gegenseitig aufgrund von verschiedenen Meinungen im Fiqh aufzufressen. Diese Streitereien sind Versuche des Teufels, die Aufmerksamkeit auf sekundäre Dinge zu lenken und primäre Angelegenheiten zu verdrängen. Deswegen möchte ich die Aussage von Šāh Waliyyullāh ad-Dahlawī nochmal erwähnen, der sagte:

"Die Wahrheit ist, dass die Herabsendung des Edlen Qurʾāns (einzig) darauf zielte, die Menschenseelen zu erziehen, die falschen Überzeugungen zu korrigieren und die verwerflichen Handlungen zu beseitigen." [Al-Fawz al-Kabīr fī Uṣūl at-Tafsīr]

In diesem Werk verdeutlicht er auch, dass die Offenbarungsanlässe (asbāb an-nuzūl) des Qurʾāns nicht wirklich in äußeren Ereignissen liegen, sondern die äußeren Ereignisse das Resultat von den Zuständen und Überzeugungen der Herzen sind und diese es am Ende sind, weswegen ein Vers herabgesandt wurde. Wenn Allāh in der Sūrah al-Muǧādila den Anlass nimmt, dass ein Mann sich von seiner Frau mit dem Rückenschwur (Ẓihār) scheidet, dann ist das Szenario der Offenbarung diese falsche Form der Scheidung, aber der wahre Grund ist, dass in den Herzen der Menschen anscheinend noch eine falsche Überzeugung / ein falscher Brauch aus der vorislamischen Zeit vorhanden war, der beseitigt werden musste.

Daher geht es auf der primären Ebene immer darum, dass die Menschen erzogen werden und sich ihre Herzen auf Allāh richten. Wenn dies erreicht wird, dann kommt es nicht mehr auf juristische Spielereien an, sondern auf die Wichtigkeit der Prinzipien und des wahren Ziels, also die Zufriedenheit Allāhs und Seine Nähe.

Donnerstag, 14. Februar 2019

Die Liebe zu Allāh

Dies ist eine schriftliche Zusammenfassung eines Vortrags zum Thema Die Liebe zu Allah (Link zum Video)

Allāh, Lob und Preis gebührt Ihm bei all Seinen Namen und Eigenschaften, spricht in Seinen offenbarten Worten, indem er dem Propheten Muḥammad, Friede und Segen auf ihm, befiehlt:

“Sprich: Wenn ihr Allāh liebt, dann folgt mir, so wird euch Allāh lieben.” (Sūrah Āli ʿImrān - Vers 31)


Der große Gelehrte Sahl ibn ʿAbdullāh at-Tustarī (gest. 283 n.H.) sagte: 
“Das Zeichen, dass man Allāh liebt, ist die Liebe zum Qurʾān. Die Liebe zu Allāh und zum Qurʾān bedingt den Propheten zu lieben. Den Propheten zu lieben bedingt seine Sunnah zu lieben. Seine Sunnah zu lieben bedeutet, das Jenseits nicht zu vergessen. Das Jenseits zu lieben bedeutet, dem Diesseits abgeneigt zu sein. Dem Diesseits abgeneigt sein heißt genügsam zu sein mit dem, was man erlangt.”


Die Gelehrten jeder Zeit und Generation haben über das Thema der Liebe gesprochen. Die höchste Liebe ist die Liebe zum Schöpfer. Denn Er ist derjenige, der das Leben und das Lieben überhaupt gewährt und möglich macht. In diesem Artikel soll über die Bedeutung der Liebe, ihre Bedingungen und Stufen gesprochen werden.


1. Definition von Maḥabba (arab. für Liebe)

Die arabische Sprache ist sehr reich an Wörtern und so hat der Begriff der Liebe und Zuneigung im arabischen um die 60 unterschiedliche Synonyme. Diese werden je nach Kontext angewandt und betonen verschiedene Schwerpunkte in der Wahrnehmung der Liebe.

Das zentrale Wort für Liebe ist Maḥabba und der Gelehrte Ibn Qayyim al-Ǧawziyya (gest. 751 n.H.) erklärt in seinem Werk Rawḍat al-Muḥibbīn den etymologischen Ursprung dieses Wortes in der klassischen arabischen Sprache. Dabei nennt er einige Beispiele, in denen dieselbe Wortwurzel (bestehend aus den drei Buchstaben Ḥā - Bā - Bā ) vorkam und aus deren Kontext der Begriff der Maḥabba womöglich hergeleitet wurde:

1. Reinheit: ḥababa l-Asnān = die Zähne scheinen vor Reinheit

Das Herz hat in seiner Liebe einen reinen und nüchternen Zustand. Es gibt sich voller Unschuld der geliebten Sache hin und ist manchmal sogar in seinem Verhalten wie ein Kind, welches naiv und unschuldig durch die Welt geht.

2. Aufkommen: ḥababun = das was nach einem heftigen Regen in einer Wasseransammlung an die Oberfläche kommt

Die Liebe ist eine Erscheinungsform des Menschen. Wenn die Liebe im Herzen hervorkommt, dann durch ein heftiges Beben und durch die Erschütterung, welches es durch die geliebte Sache erfährt.

3. Niederfallen: Aḥabba l-Baʿīr = das Kamel ist niedergefallen

Das Herz fällt in der Liebe auf den Boden und verliert der geliebten Sache gegenüber seine Kraft.

4. Unruhig sein: Ḥibb = Ohrring 

Ein Ohrring bewegt sich ständig mit der Bewegung des Trägers. So bewegt sich das Herz ständig entsprechend der Regungen der geliebten Sache.

5. Essenz: Ḥabba = Der Kern einer Sache

Die Liebe ist die essenzielle Kraft und der Ausdruck des Herzens.

6. Befüllt: Ḥubb = Ein Behälter, der so voll ist, dass er nichts mehr aufnehmen kann

Das Herz ist in seiner vollkommenen Liebe durch die geliebte Sache erfüllt, dass es nichts weiteres mehr aufnehmen kann.

7. Lasttragend: Ḥubb = Ein vierteiliger Holztisch, auf den schwere Sachen gelagert werden

Das Herz muss durch die Abhängigkeit und Unterwerfung zur geliebten Sache eine Last tragen, die ihn manchmal an seine Grenzen bringen kann.

Maḥabba in der Anwendung als Liebe: 

• Die Neigung des Herzens mit Liebesregungen 
• Das Präferieren des Geliebten vor anderen 
• Mit dem Geliebten in Übereinklang (Muwāfaqa) sein, ob er nah oder fern ist 
• Die Übereinstimmung der Hoffnungen des Liebenden und des Geliebten 
• Die verehrende Diensterweisung 
• Das Viele, was man dem Geliebten gibt, als Wenig ansehen und das Wenige, was man vom Geliebten erlangt, als Viel ansehen 
• Das Eingenommen-Sein des Herzens durch die Erinnerungen an den Geliebten 
• Außer dem Geliebten alles aus dem Herz zu verbannen 
• Die Liebe zu einer Sache macht dich blind und taub.” (Abū Dāwūd, Aḥmad)


Wenn wir dieses Verständnis der Liebe auf Allāh übertragen, sagt Ibn Qayyim, kommt man zu dem Schluss, dass alles aus Liebe und für die Liebe entstanden ist. Denn vom Diener in seinem Leben werden die folgenden Punkte der Liebe erwartet:

• Allāh lieben = Im Einklang sein mit Ihm (Muwāfaqa) 
• Seine Gebote und Verbote durch den eigenen Entschluss einhalten
Anmerkung: Die Engel sind im Einklang und Hingabe ohne eigenen Entschluss, während die Menschen und Ǧinn sich dazu entschließen sollen aus freier Hingabe und Erkenntnis
• Islām kommt von Taslīm und bedeutet "sich ergeben" →  sich Allāh hingeben 

→ Allāh hat also alles erschaffen, damit es im Einklang mit Ihm ist 
→ Einklang/Liebe ist der Seinszweck der Schöpfung

Der zuvor behandelte Gelehrte Abū Ṭālib al-Makkī (gest. 386 n.H.) nennt in seinem Werk Qūt al-Qulūb einige Bedingungen und Anzeichen der Maḥabba.

Bedingungen/Voraussetzungen der Maḥabba:

• Das häufige Gedenken Allāhs 
• Der Wunsch, den Geliebten zu erreichen 
→ Abnahme weltlicher Hoffnungen, Sehnsucht nach dem Jenseits 
→ "Wer sich auf das Treffen mit Allāh freut, so freut sich Allāh auf das Treffen mit ihm.” (Buḫārī, Muslim, Tirmiḏī, Nasāʾī, Ibn Māǧa, Aḥmad) 
• Das Bevorzugen des Geliebten gegenüber dem eigenen Nafs 
• Das bewusste Verrichten der Gottesdienste 
• Die Liebe zu Seinen Worten und die häufige Beschäftigung mit Seinen Worten

Anzeichen der Maḥabba:

• Das Aufopfern von Hab und Gut auf Seinem Weg 
→ Der Einsatz des eigenen Lebens für Allāhs Sache → Abmühung, Anstrengung, Aufopferung 

"Sprich: "Wenn eure Väter und eure Söhne und eure Brüder und eure Frauen und eure Verwandten und das Vermögen, das ihr euch erworben habt, und der Handel, dessen Niedergang ihr fürchtet, und die Wohnstätten, die ihr liebt, euch lieber sind als Allāh und Sein Gesandter und das Kämpfen für Seine Sache, dann wartet, bis Allāh mit Seiner Entscheidung kommt; und Allāh weist den Ungehorsamen nicht den Weg." (Sūrah at-Tawbah - Vers 24) 

• Das Unwohlsein mit den Dingen, die von Allāh ablenken 

→ “Gebe dich Ihm in voller Hingabe hin.” (Sūrah al-Muzzammil - Vers 8) 

Binde dich an Allāh durch das Loslösen aller Dinge, die dich von Ihm ablenken.

Der ebenfalls zuvor behandelte Gelehrte Abū al-Faraǧ ibn al-Ǧawzī (gest. 597 n.H.) erwähnt in seinem Werk Madāriǧ as-Sālikīn die Stufen der Liebe und warum entsprechend dieser Stufen Allāh am meisten unsere Liebe verdient.

Fünf Stufen der Liebe

1. Liebe zum eigenen Selbst und zum Fortbestehen 
2. Liebe zu den Dingen, die das Fortbestehen ermöglichen 
3. Liebe zu denjenigen, die der Menschheit Nutzen bringen 
4. Liebe zu den äußeren oder inneren Schönheiten 
5. Liebe zu denen, zu denen man seelisch nahe ist. 

→ Die Seelen sind gleich Soldaten in Truppen. Diejenigen, die sich nahe stehen empfinden Zuneigung zueinander und verbinden sich. Diejenigen, die sich nicht nahe stehen können sich nicht miteinander verbinden.” (Buḫārī)

Warum Allāh entsprechend dieser fünf Stufen unsere Liebe am meisten verdient

1. Allāh ist der Grund für das Dasein des Menschen 
2. Allāh ist der Grund für das diesseitige und jenseitige Bestehen des Menschen und sein Wohlergehen 
3. Allāh erhält die Menschheit, gewährt Rechtleitung und Versorgung, Wissen und Weisheit 
4. “Allāh ist Schön und er liebt das Schöne” (Muslim) und er legt die Schönheit in die weltlichen Dinge 
5. Allāh ist dem Menschen seelisch am nächsten und auch dessen Urgrund. 

→ “Und Wir sind ihm näher als (seine) Halsschlagader.” (Surah Qāf - Vers 16)

Hieraus sehen wir, dass die Liebe zu Allāh und das Übereinstimmen mit Ihm die Aufgabe des Menschens auf dieser Welt ist. Alles andere sind nur Mittel, um zu diesem Ziel zu gelangen. Der Mensch darf dieses Ziel nicht aus den Augen verlieren und muss bei allen Dingen, die er tut, Allāh als Endziel und als Geber und Erweiser der Gnaden ansehen. So erlangt man Seine Nähe und Zufriedenheit und kann in diesem Ziel den Zustand des Einklangs erreichen.

Montag, 22. Oktober 2018

Das Herz (al-Qalb) und die Einflüsterungen

Dies ist eine schriftliche Zusammenfassung eines Vortrags zum Thema Das Herz (al-Qalb)  (Link zum Vortrag: https://youtu.be/kX8MO2i6Sv8 )

Einer der bekannten Überlieferer aus der Zeit der Tābiʾīn, Ḫālid ibn Maʿdān (gest. 103 n.H.) sagte:

“Allāh hat Behälter auf der Erde. Die liebsten Behälter sind die sanftesten und reinsten. Die Behälter Allāhs auf der Erde sind die Herzen der rechtschaffenen Diener.”

Diese Aussage, die in ähnlichen Wortlauten auch als Ḥadīṯ überliefert wurde, spricht über die Behälter Allāhs als ein Gleichnis für die Herzen. Die Herzen werden im Qurʾān als das zentrale Element des Begreifens mehrmals erwähnt.

Allāh sagt: „Hierin liegt wahrlich eine Ermahnung für den, der ein Herz (qalb) hat oder zuhört und bei der Sache ist.“ (Sūrah Qāf - Vers 37)

In diesem Artikel soll erklärt werden, wie das Herz / al-Qalb definiert wurde und welche Bedeutungen es im Leben des Gläubigen haben sollte.

Wir nehmen wieder zuerst die Definition von dem großen Sprachwissenschaftler Ibn Manẓūr (gest. 711 n.H.), dem Verfasser des Lisān al-ʿArab, eines der größten und bedeutsamsten Lexiken der arabischen Sprache. Er sagt, dass al-Qalb in dem Sinne verstanden wird, dass eine Sache umgeändert, umgewälzt oder umgedreht wird. Hierbei wird das einfache Beispiel eines Mannes gegeben, der mit dem Rücken zu einem steht und sich dann umdreht. Al-Qalb ist somit das, was sich dreht bzw. ständig wendet und ändert.
Die zweite sprachliche Definition entnehmen wir von dem hanbalitischen Universalgelehrten Abū al-Faraǧ ibn al-Ǧawzī (gest. 597 n.H.), der in seinem Werk Madāriǧ as-Sālikīn sagte, dass al-Qalb zuerst den physischen Fleischkörper in der Mitte der Brust bezeichnet und auf der tieferen Ebene eine sogenannte Laṭīfa. Die Laṭāʾif (Pl. von Laṭīfā) sind subtile und essentielle Ebenen der Seele. Diese Laṭīfa ist die Instanz, an die die göttliche Ansprache im Qurʾān gerichtet ist und daher auch die, welche am Ende zur Rechenschaft gezogen wird.

Das Herz wird im Qurʾān zahlreich erwähnt. Die folgenden Beispiele sollten einige Eindrücke geben:

"Und wisset, dass Allāh zwischen den Menschen und sein Herz tritt, und dass ihr vor Ihm versammelt werdet." (Sūrah al-Anfāl - Vers 24)

"Und gehorche nicht dem, dessen Herz Wir achtlos für die Erinnerung an Uns machten und der seinen Gelüsten folgt und maßlos ist." (Sūrah al-Kahf - Vers 28)

"Sodann verhärteten sich eure Herzen, so dass sie wie Steine wurden oder noch härter." (Sūrah al-Baqara - Vers 74)

In der Sunnah finden wir sogar einen Hadīṯ, der eine Definition durch den Propheten beinhaltet:

Der Prophet (ṣ) sagte: "Das Herz (al-Qalb) hat seinen Namen aufgrund seiner Wechselhaftigkeit (taqallub). Das Gleichnis des Herzens ist das einer Feder, die an der Wurzel eines Baumes hängt und die der Wind immer wieder herumdreht." (Überliefert bei Aḥmad)

Nun nehmen wir die zwei bisher verwendeten Autoren und schauen ihre Abhandlungen über dieses Thema an.

Abū al-Faraǧ ibn al-Ǧawzī sagt, dass das Herz das Zentrum des Willens und der Entscheidungen ist und alle Gliedmaßen daher den Anordnungen des Herzens folgen. Die Werkzeuge, die dem Herzen unterliegen, bezeichnet er bildlich als zwei Armeen. Die erste Armee ist die sichtbare und besteht aus den inneren und äußeren physischen Teilen des Körpers. Die zweite Armee ist die unsichtbare und besteht aus den Kräften und Trieben im Körper, die aus der natürlichen Anlage heraus dem Körper sagen, was es erlangen soll.

Dabei haben die Armeen drei Funktionen:
1. Irāda (Wille) → Das Gute wollen und das Schlechte verabscheuen
2. Qudra (Fähigkeit) →  Das Gute anstreben und das Schlechte meiden
3. Idrāk (Wahrnehmen) und ʿIlm (Wissen) →  Das Gute und Schlechte erkennen und einschätzen

Insgesamt hat der Körper laut Ibn al-Ǧawzī fünf physische und geistige Sinne:

Fünf physische Sinne: Hören, Sehen, Riechen, Schmecken, Fühlen
Fünf geistige Sinne: Vorstellen (taḥayyul), Merken (taḥaffuẓ), Nachdenken (tafakkur), Erinnern (taḏakkur), Nachempfinden (Ḥiss muštarak)

Aus der gesamten Gliederung geht auch der wesentliche Unterschied zwischen Tier und Mensch hervor. Dieser ist, dass der Mensch Wissen und Willen besitzt und somit die Taten des Menschen nicht nur einfachen Reiz-Reaktions-Mustern folgen, sondern durch die Wahl und Überlegung des Menschen geprägt werden.

Dann erwähnt Ibn al-Ǧawzī das Gleichnis eines Spiegels, um fünf verschiedene Hindernisse zu verdeutlichen, mit denen das Herz davon abgehalten wird, eine richtige Erkenntnis zu erlangen.

Das Herz ist wie ein Spiegel, es nimmt die Dinge symbolisch/formell/abstrakt auf und hält sie fest.
Die fünf Hindernisse, die den Spiegel → das Herz von der Wahrheit abhalten:

1. Unvollständigkeit des Spiegels oder der Oberfläche 
→  Geistige Beschränktheit / Unterentwicklung 
2. Verschmutzung der Oberfläche 
→  Verblendung des Herzens durch Wünsche und Verlangen 
3. Falsche Ausrichtung des Spiegels 
→  Beschäftigung des Herzens mit anderen Dingen 
4. Verschleierung zwischen Spiegel und Objekt 
→  Beschränktheit durch Voreingenommenheit/Fanatismus/Sturheit 
5. Unkenntnis über die Richtung des Objekts 
→  Unfähigkeit, die Wahrheit zu finden durch chaotische und unstrukturierte Vorgehensweisen

Zuletzt erwähnt er eine Reihe von Untugenden, die das Herz schwächen und somit dem Teufel ermöglichen, leichter Eintritt zu finden:

Neid (Ḥasad) – Verlangen (Ḥirṣ) – Wut (Ġaḍab) – Ausstattungszwang (Haus, Möbel, Deko usw.) – Essen bis zur Fülle – Erwartungen (Unterwürfigkeit) – Eile – Liebe zum Vermögen (Verbotene Wege, Geiz, Armutssorgen usw.) – Fanatismus/Parteilichkeit – Das kompliziert Machen der religiösen Angelegenheiten – Das schlechte Denken über seine Geschwister

Dem zweiten Gelehrte Abū Ṭālib al-Makkī (gest. 386 n.H.) entnehmen wir seine Darstellung der Gedanken, die das Herz befallen können. Er sagt, dass es insgesamt sechs Instanzen gibt, von denen ein Einfluss auf die Gedanken des Herzens entstehen können.

1. Die Einflüsterungen des Teufels (-) 
Diese sind immer negativ und sollen den Menschen zu schändlichen Dingen treiben.
2. Die Neigungen des Nafs (-) 
Diese sind die grundlegenden Triebe des Nafs und müssen kontrolliert und gezügelt werden. 
3. Die Gedanken des Verstandes (+/-) 
Diese helfen dabei Wissen/Überlegungen weiterzudenken und zu ordnen.
4. Die Motivation der Engel (+) 
Diese sind immer positiv und sollen den Menschen zu guten Dingen führen.
5. Die Neigungen der Seele (+) 
Diese sind die seelisch veranlagten Wünsche, Allāh zu dienen und Seine Zufriedenheit zu erlangen.
6. Die Einleuchtungen/Erkenntnisse, die von Allāh kommen, entsprechend der Gewissheit (Yaqīn) (++)
Das ist ein Punkt, bei dem sich die Gelehrten uneinig waren und zwar die Art des Einflusses, bei dem Allāh direkt das Herz entsprechend seiner Gewissheit mit Erkenntnissen erleuchtet.

Auch Al-Makkī bedient sich eines Gleichnisses. Er möchte die Gewissheit (al-Yaqīn) durch das Licht eines Feuers beschreiben, welches durch den Schlag auf einen Feuerstein erzeugt wird.

Īmān / Glaube →  Wie ein Feuerstein 
Ilm / Wissen → Wie der Schlag des Feuersteins, um einen Funken zu erzeugen 
Aql / Verstand →  Wie das Feuer, was durch diesen Funken erzeugt wurde 
Die Gewissheit ist wie das Licht, das von diesem Feuer ausgestrahlt wird

Der Glaube ist wie ein Feuerstein. Es hat das Potenzial, Funken zu erzeugen, benötigt jedoch das Wissen, womit man den Glauben reizt und somit den Funken erzeugt, der das Feuer des Verstandes erleuchtet. Dieses Feuer strahlt dann das Licht der Gewissheit aus.

Deswegen erwähnt Allāh auch im folgenden Vers das Wissen zuerst, weil erst mit dem Wissen der Glaube verwirklicht werden kann:

Es ist mit Allāhs Wissen offenbart worden; und es ist kein Gott außer Ihm.“ (Sūrah Hūd - Vers 14)

Dann erwähnt Al-Makkī noch drei Faktoren, die den Einfluss des Nafs stärken und drei Schleier, die die Wahrheit verschleiern:

Drei Faktoren, die den Nafs Stärken:
1. Unwissenheit 
Wenn man kein Wissen über Gut und Schlecht hat, kann man in alle Richtungen geneigt sein.
2. Verlangen/Gier
Wenn man voller Verlangen ist, kann man seine Taten nicht gut durchdenken und macht daher voreilige Schritte.
3. Liebe zur Dunyā
Diese lenkt davon ab, sich auf sein Jenseits zu konzentrieren.

Drei Schleier, die die Wahrheit verschleiern:
1. Die Mittel (Asbāb) →  Die Mittel sind die Instanzen, durch die Allāh die gewünschten Wirkungen und Kausalitäten zustande bringt. Der Schleier entsteht, wenn diese Mittel als die Quelle der Wirkungen angesehen werden, anstatt als Mittel, durch die Allāh die Wirkungen zustande bringt. 
2. Die Gelüste (Šahawāt) →  Die Gelüste machen das Auge blind und lassen den Menschen gänzlich auf die Befriedigungen der Momente konzentriert sein, ohne Konsequenzen und negative Folgen zu berücksichtigen.
3. Die Gewohnheiten (ʿĀdāt) →  Religiöse Rituale werden zu Gewohnheiten, wenn man sie nur noch als Routine ausübt. Sobald etwas zur Routine wird, wird sein essenzieller Daseinszweck verdrängt/vergessen.

Diese ganzen Gliederungen und Punkte haben diese beiden und auch viele weitere Gelehrte in ihren Werken skizziert, um Reize und Ansätze zu schaffen, die den Menschen dabei behilflich sein sollen, das Herz und seine Funktionsweise zu verstehen.

Freitag, 20. Juli 2018

Bin ich nur ein Muslim? Die Frage nach der Identität.

Schon in einigen früheren Beiträgen habe ich das Problem der Identitätssuche von Muslimen besprochen.  In diesem Beitrag möchte ich kurz ergänzen, zwischen welchen zwei Problemen bzw. Extremen sich diese Identitätssuche abspielt.

Grundsätzlich ist es für den Muslim ausreichend, dass er sich seiner Person als Muslim bewusst wird. Denn wenn ein Mensch sich als Muslim wahrnimmt und den Glauben mit Überzeugung annimmt, dann folgt darauf eigentlich auch die Anpassung seines Lebens entsprechend der normativen Vorgaben und Erwartungen, die uns von Allāh und seinem Gesandten erreicht haben.
Der Muslim hat durch das bloße Konzept des Islams genug Aufgaben und Verantwortungen, die ihn dabei unterstützen, eine funktionierende und vollständige Identität zu bilden. Es beginnt mit dem Einhalten der Gebote und Verbote und geht hin zu der Verfeinerung des Charakters und der intensiven Bemühung um die Besserung der Umwelt und der Mitmenschen.
Die Vorbilder und Ideale, die in den früheren und späteren Büchern festgehalten wurden, sind zahlreich und ausreichend, um genug Leitfäden zu besitzen, die man bei der Schulung seiner eigenen Persönlichkeit nutzen könnte.

Wäre da nicht dieser Kontrast...

Das Problem entsteht nämlich genau dann, wenn ein Muslim bemerkt, dass er mit seiner Ambition und Motivation hervorsticht und die breite Masse der Muslime anscheinend gar nicht so interessiert ist, die Religion mehr oder weniger authentisch und intensiv zu praktizieren. Genau das passiert sehr vielen jungen Muslimen, die durch Allāhs Gnade und Rechtleitung motiviert mit dem Praktizieren der Religion anfangen und beim Aufblühen die Unterstützung und Bestätigung von anderen ersuchen. Denn jeder, der dabei ist, eine Identität zu entwickeln, möchte bei jedem Schritt, rein pädagogisch gesehen, bestätigt werden, um bei diesem unsicheren Schritt bestätigt zu werden und dadurch Sicherheit zu empfinden.
Die Muslime als breite Masse wirkt für die meisten praktizierenden Muslime jedoch sehr schwammig und qualitativ dünn und diese Masse reicht daher irgendwie nicht, um diese Bestätigung von sich zu geben. Denn die gesamte Masse lässt nicht von sich spüren, dass die Motivation für die Religion etwas gutes sei. Dies führt dann dazu, dass diese jungen Muslime nun Gleichgesinnte suchen, die ebenfalls durch intensivere Bemühungen hervorstechen.

Und hier beginnt dann das erste Problem der Identitätssuche. Statt nur Muslim zu bleiben, entwickeln die Muslime kleinere elitäre Kreise, die sich von der allgemeinen Masse der Muslime abgrenzen möchten. Sie sehen sich zwar als Muslime, aber möchten schon irgendwo etwas anderes sein, weil sie ja angeblich authentischer und wahrhaftiger sind. Diese Abgrenzung kann bei vielen extremistischen Gruppen beobachtet werden. Sie benutzen oft andere Label für sich, denn nur Muslim zu sein ist leider nicht mehr ausreichend für viele.

Wenn man nur Muslim wäre, dann wäre man ja ein Teil dieser qualitativ schwachen Restmenge von Muslimen. Das geht nicht. Man möchte ja etwas besonderes sein. Schließlich ist der Islam die Wahrheit und das muss sich auch daher besonders anfühlen.

Exklusivierung bzw. die Entstehung von elitären Randgruppen ist eine Folge der qualitativen Schwäche der allgemeinen Menge der Muslime. Wenn die Muslime also Kritik ausüben möchten, dass sich junge Leute abgezweigt haben, dann muss ihre Kritik auch beinhalten, dass die allgemeine Menge der Muslime klar und deutlich versagt hat. 

Diese qualitative Wässrigkeit der Muslime führt dazu, dass die Muslime, die ihre Religion ernst nehmen möchten, in ihrem Aufenthalt in dieser dünnflüssigen Menge nicht die richtige und notwendige Festigkeit verspüren und daher abgrenzende Haltungen einnehmen. Auf der anderen Seite werden die neueren Generationen so schwach mit der Religion vertraut gemacht, dass die meisten gar nicht erst versuchen, eine Identität auf diesem schwachen Fundament aufzubauen und stattdessen außerhalb des Islams nach einer Fülle ihrer Identität suchen. Und dies können wir genau beobachten, wenn wir sehen, dass Jugendliche aus muslimischen Familien mehrheitlich zu Idolen aus der Musik (insbesondere aus der Gangster-Rap-Szene), aus dem Sport oder aus anderen Bereichen greifen. Oder sie kommen in den Zustand der angeblichen Perspektivlosigkeit und neigen zu Drogenkonsum und anderem maßlosen Konsumverhalten.

Es ist somit egal, ob wir irgendwelche super-authentischen Muslime haben, die den Rest der Muslime als Irregegangene/Erneuerer betrachten oder irgendwelche "Kanacken" mit zerrissenen Hosen und neuartigen Trendfrisuren, die sich irgendwelche Gangster-Rapper reinziehen und die Nächte in den Shishabars oder Wettbüros verbringen. Beide Ausprägungen sind Ergebnisse von gescheiterter Identitätsbildung. Und an diesen Ergebnissen sind alle Muslime schuld. Als Gesamtheit tragen wir die Schuld dafür, dass wir nicht ausreichend dafür machen, um das Identitätsgefühl, welches ein Muslim als solcher empfinden sollte, zu stärken.

Die Individuen machen die Gesamtheit aus. Jeder muss seinen Beitrag leisten, um die Gesamtqualität der Muslime als Menge zu steigern. Jeder muss etwas dafür leisten. Und der Anfang liegt darin, dass wir aufhören so egoistisch zu sein und die Bereitschaft entwickeln, unsere eigene Kraft und Zeit für den Islam aufzuopfern.

Sonntag, 17. Juni 2018

Ramaḍān - sollte Augen öffnen

"Der Monat Ramaḍān ist es, in dem der Qurʾān als Rechtleitung für die Menschen herabgesandt worden ist und als Verdeutlichung (des Stellenwertes) der Rechleitung und der Unterscheidung [bzw. differenzierten Wahrnehmung]." (Sūrah al-Baqarah - Vers 185)

Der heilige Monat Ramaḍān ist vorbei. Einen ganzen Monat haben wir mit der Erlaubnis und Unterstützung Allāhs gefastet und versucht, unsere weltlichen Gelüste und Neigungen zu zügeln. Jetzt heißt es sich selbst zur Rechenschaft zu ziehen:

Was hatte ich mir vorgenommen und was davon habe ich erreicht? Warum habe ich mir gedacht, dass ich so viel schaffen würde und was war es, was mich vom Erreichen und Einhalten meiner Pläne abhielt? Habe ich irgendwann nur noch Routine-Abläufe gehabt? War es nur noch ein Routine-Fasten oder Routine-Beten? Welche gottesdienstlichen Taten möchte ich, wenn auch in kompakterer Form, nach diesem Monat als Gewohnheit mitnehmen? Worin möchte ich mich steigern und was möchte ich bis zum nächsten Ramaḍān besser machen?

Das sind alles Fragen, die sich der Muslim stellen muss. Denn einer der wichtigen Funktionen von Ramaḍān ist es, Bewusstsein zu schaffen. Im Ramaḍān erleben wir uns selbst, und zwar in Form unserer Triebe, Wünsche und Gewohnheiten. Wir erleben uns deshalb, weil wir uns nun aktiv stoppen müssen, viele Dinge zu tun. Wir lernen somit die Kontrolle über unseren Antrieb, das aktive Unterbinden und somit eine reflektive Position zu uns selber einzunehmen. Wir gehen aus uns heraus und betrachten uns wie ein Kind, das es zu erziehen gilt. Diese analytische und reflektive Betrachtung soll in uns Bewusstsein erzeugen. 

Wenn wir in diesem Monat aber nur darauf bedacht waren, so und so viele Gebetseinheiten zu beten und so viele Seiten des Qurʾān zu rezitieren, dann werden wir dies womöglich mit Allāhs Huld mehr oder weniger auch geschafft haben. Warum? Weil Quantitäten die teuflischen Energien ins uns und außer uns nicht sonderlich stören. Sie sind eine minimale Aufopferung unserer Gemütlichkeit und Zeit. Es ist keine Frage, dass die Anzahl von Gottesdiensten sicherlich ihren Wert bei unserem Herrn hat. Jedoch sind und waren es noch nie die Quantitäten, die die Welt verändert haben. Es war immer die qualitative Leistung; sei sie auch nur wenig an Anzahl. 

Wenn man die Wertstellung dieses heiligen Monats bei den Gefährten und früheren Gelehrten nachliest und untersucht, erkennt man leicht, dass sie diesen Monat als eine Zeit des Wandels und Aufstiegs verstanden haben. Es war ein Sprungbrett zu einem höheren und bewussteren Ich. Eine Schule für den Geist.
So freuten sie sich Monate zuvor auf diesen Monat und bereiteten sich vor. Wenn der Monat vorbei war, reflektierten sie und zogen Lehren für die Monate danach. Denn sie verstanden einen wesentlichen Aspekt des Glaubens:

Das Streben nach der Zufriedenheit Allāhs ist ein endloser Aufstieg.

Die Unendlichkeit spielt eine wichtige Rolle. Denn was viele außer Acht lassen, ist die Tatsache, dass Allāh der Erhabene ist. Erhabenheit in allem. Er überragt und transzendiert alles. Deswegen erinnern wir uns daran, indem wir jeden Tag im Gebet "Allāhu ʾakbar" sagen. Dies ist eine relative Formulierung, denn man sagt "Allāh ist größer." Größer, weil es keinen festgelegten/fassbaren Maß hat. Allāhs Erhabenheit erstreckt sich in die Unendlichkeit. Das Streben nach Allāh und nach Seiner Zufriedenheit ist somit unermesslich und hat immer Luft nach oben. Das klingt von der Formulierung her vielleicht etwas abschreckend, weil man sich denkt, dass es wie ein unerreichbares Ziel klingt. Aber so ist es nicht. Denn jede Nähe und jeder Schritt zu Seiner Näher ist ein Geschmack und ein Erfolg für sich. Aus diesem Grund hört der Muslim auch nicht auf zu streben, weil er weiß, wie der Aufstieg zu Allāh schmeckt. Der Muslim stagniert nicht, weil er den Geschmack des Aufstiegst vermisst.

Im Paradies wird der Aufstieg zu Allāh nicht aufhören. Jeden Tag werden die Bewohner der Glückseligkeit aufsteigen und jeden Tag den Geschmack der höheren Nähe schmecken. Dies macht das Paradies umso attraktiver, weil es einen unendlichen Aufstieg geben wird. Wenn man nämlich nüchtern und ganz menschlich denkt, könnte man ja denken, dass das Paradies irgendwann langweilig werden könnte mit all seinen Bächen und Früchten. Der fleißige Muslim war es im Leben ja schließlich gewohnt, Genuss als Abwechslung zu nutzen. Wo bleibt da der Reiz nach tausenden von Jahren, wenn alles immer gleich bleibt und man den ganzen Tag nur rumhängt? 
Und genau hier beantwortet das oben Erwähnte diese Frage. Die Unendlichkeit ermöglicht, dass alles jeden Tag schöner wird und das Gestrige in den Schatten gestellt wird. Der "Konsum" im Paradies wird somit jeden Tag übertrumpft. Aber das sollte den Kenner der göttlichen Nähe nicht großartig reizen. Was ihn nämlich reizt ist die Freude und Aufregung, die der darin empfindet, dass er weiß, dass im Paradies die Nähe zu Allāh jeden Tag zunehmen wird.

Hierin liegt die Botschaft von Ramaḍān. Habe ich heilsam gewirkt für mich und meine Umgebung, so dass ich Allāhs Gnade empfinden konnte? Habe ich mich selbst überwunden und üble Eigenschaften zu Tugenden umgewandelt, so dass ich einige Schleier beseitigen konnte, die mein Nafs zwischen mir und Allāh gebildet hat? Habe ich etwas zur Verbesserung der Menschheit beigetragen, so dass Ordnung durch mich entstand? 

Denn die Ordnung ist göttlicher Wille. Chaos und Spaltung ist des Teufels Werk.

Ordnet man, vereint man, hebt man Barrieren und Hindernisse auf, so dass Frieden und Einklang einkehren können, dann hat man den Tawḥīd auf menschlicher Ebene verwirklicht. Denn Tawḥīd bedeutet nicht nur, dass wir Allāh als einzig anbetungswürdigen Herrn ansehen und Ihm demgemäß dienen, sondern es bedeutet auch, dass wir die Gläubigen vereinen uns nicht spalten.

Stellt man somit Ordnung in der Gesellschaft, in der Familie und auch in unserem Inneren her, kommt man der göttlichen Einheit näher und erlebt die Gnade und Nähe Allāhs.
Das sollte der Ramaḍān uns lehren; und darüber sollten wir nun nachdenken, auf dass der Segen dieses Monats nachträglich auf uns wirkt und uns hilft, Ordnung, Besserung und Aufstiege in unserem Leben zu ermöglichen.

Denn Gottesdienste sind lediglich Formen und Zahlen, wenn sie nicht mit einem Bewusstsein einhergehen. Und bei Allāh hat davon alles keinen Stellenwert, wenn man diese nicht mit einem reinen und heilsamen Herz ausführt.

"An dem Tage, da weder Besitz noch Söhne (etwas) nützen, sondern nur der (etwas erreicht), der mit reinem Herzen zu Allāh kommt." (Sūrah aš-Šuʿarāʾ - Verse 88-89)

So lasst uns keine Routine-Roboter sein, die die Gottesdienste lediglich nach der Form ausführen, sondern lasst uns bewusste Diener sein.

"Seid Gotteskenner (Rabbāniyyīn) mit dem, was ihr gelehrt habt und mit dem, was ihr studiert habt." (Sūrah Ālī ʿImrān - Vers 79)

Lasst uns achtsam und anwesend sein vor Allāhs Erhabenheit.

"Hierin liegt wahrlich eine Ermahnung für den, der ein (reines) Herz hat oder genau hinhört während er anwesend/achtsam ist." (Sūrah Qāf - Vers 37)

Und bei Allāh liegt der Erfolg.

Donnerstag, 3. Mai 2018

Das Gedenken Allāhs und seine Vorzüge

Dies ist eine schriftliche Zusammenfassung eines Vortrags zum Thema Gedenken Allāhs
(Link zum Vortrag: https://youtu.be/7x3C6Amh6MY )

Allāh, der Herr der Welten, der Schöpfer aller Dinge, lädt uns in seinem Buch dazu ein, dass Er unserer gedenke:

So gedenkt also Meiner, damit Ich euer gedenke; und seid Mir dankbar und verleugnet Mich nicht.“ (Sūrah al-Baqara - Vers 152)

Wir können diesem Aufruf folgen und uns dessen bewusst sein, dass jedes Mal, wenn wir Allāh gedenken, Er auch uns gedenkt und bei sich und den Engeln erwähnt.

In diesem Artikel soll daher besprochen werden, was das Gedenken ist und wie wir es richtig umsetzen können. Zuerst schauen wir uns die sprachliche Definition an, wie sie der Sprachwissenschaftler Ibn Manẓūr (gest. 711 n.H.) in seinem Werk Lisān al-ʿArab aufgeführt hat. Das Gedenken, arabisch aḏ-Ḏikr, bedeutet erstens das Hüten/Bewahren einer Sache, zweitens das, was auf der Zunge läuft/erwähnt wird und drittens das Wiederholen einer Sache

Abū Bakr Al-Wāsiṯī (gest. 320 n.H.) definiert aḏ-Ḏikr folgendermaßen: “Es ist das Heraustreten aus dem Zustand der Unachtsamkeit in den Zustand der Murāqaba (von Allāhs Anwesenheit) aufgrund der Erdrückung durch die Gottesfurcht und der Intensität der Liebe zu Ihm.” [Ar-Risāla al-Qušayriyya]

Al-Murāqaba ist die Beobachtung, womit das Bewusstsein gemeint wird, mit der wir Allāhs Anwesenheit in unser Gedächtnis bzw. in unser Herz rufen.

Hiernach schauen wir uns einige Verse im Qurʾān an, in denen die Wirkung und die Anwendung des Gedenkens erwähnt werden:

Und das Gedenken Allāhs ist fürwahr das Größte.“ (Sūrah al-ʿAnkabūt – Vers 45) 

Und diejenigen, die - wenn sie etwas Schändliches getan oder gegen sich gesündigt haben - Allāhs gedenken und für ihre Sünden um Vergebung flehen…“ (Āli ʿImrān – Vers 135) 

Und wenn ihr das Gebet verrichtet habt, dann gedenket Allāhs im Stehen, Sitzen und im Liegen.“ (Sūrah an-Nisāʾ - Vers 103) 

Wahrlich die Gläubigen sind diejenigen, deren Herzen erbeben, wenn Allāh genannt wird, und die in ihrem Glauben gestärkt sind, wenn ihnen Seine Verse verlesen werden, und die auf ihren Herrn vertrauen." (Sūrah al-Anʿām - Vers 2) 

Es sind jene, die glauben und deren Herzen Trost finden im Gedenken an Allāh. Wahrlich, im Gedenken Allāhs werden die Herzen ruhig.“ (Sūrah Ar-Raʿd - Vers 28) 

Und gedenke deines Herrn in deinem Nafs in Demut und Furcht, mit leisen Worten - des Morgens und des Abends; und sei nicht von den Unachtsamen.“ (Sūrah al-Aʿrāf - Vers 205)

Aus diesen Versen werden einige Punkte deutlich:

• Die besondere Bedeutung und der hohe Stellenwert des Gedenkens ist klar zu erkennen.
• Das Gedenken folgt auf die Sünde oder auf die Versuchung zur Sünde und hilft dabei, das Herz schleunigst zu Allāh zurück zu wenden.
• Das Gedenken erfüllt das Herz mit Ehrfurcht, lässt es erbeben, demütig werden und lässt den Glauben steigen. Dies alles wirkt auf das Bewusstsein des Gläubigen beruhigend/beschwichtigend, so dass die Herzen insgesamt die Ruhe erlangen.
• Das Gedenken kann zur jeder Tageszeit und in jedem Zustand ausgeübt werden.

Den Stellenwert des Gedenkens in der Sunnah des Propheten entnehmen wir dem Kapitel über die Vorzüglichkeit des Gedenkens aus dem Werk Mukāšafatu l-Qulūb von Imām al-Ġazālī (gest. 505 n.H.), der eine Reihe von Überlieferungen erwähnt, aus denen folgende Vorzüge des Gedenkens zu entnehmen sind:

• Der Gedenkende ist im Verhältnis zum Unachtsamen wie ein Lebender im Verhältnis zu einem Toten, oder wie ein mutiger Kämpfer im Verhältnis zu denen, die vom Schlachtfeld fliehen.
• Das Gedenken verringert die Sünden, weil es den Diener ständig mit Allāh in Verbindung bringt, so dass das Herz weniger von den Versuchungen heimgesucht werden kann.
• Das Gedenken ist der vorzüglichste Gottesdienst.
• Der Gedenkende hat bei Allāh eine hohe Stellung.

Diese deutlich zu erkennende Vorzüglichkeit betonen auch die Gelehrten:

Al-Ḥasan al-Baṣrī (gest. 110 n.H.) sagte: „Es gibt zwei Formen von Ḏikr. Der Ḏikr, der abseits anderer in der Einsamkeit mit Allāh geschieht und der Ḏikr, der bei der Annäherung einer Sünde dazu führt, dass man sich davor fernhält. Dieser ist vorzüglicher." [Mukāšafatu l-Qulūb]

Muʿāḏ ibn Ǧabal (gest. 18 n.H.) sagte: „Die Menschen werden (am Jüngsten Tag) am meisten die Zeiten bereuen, in denen sie nicht Allāh gedacht haben.“ [Mukāšafatu l-Qulūb]

Sahl ibn ʿAbdullāh at-Tustarī (gest. 283 n.H.) sagte: “Ich kenne keine abscheulichere Sünde als das Vergessen Allāhs.” [Ar-Risāla al-Qušayriyya
(Hier ist zu erwähnen, dass das Vergessen Allāhs nicht direkt eine Sünde ist, sondern die Tür zu jeder Sünde. Denn alle Sünden beginnen damit, dass man Allāh vergisst/verdrängt)

Das zuvor erwähnte Konzept der Murāqaba, womit der Diener die Anwesenheit von Allāh begreifen soll, thematisiert der in dem vorherigen Artikel besprochene Gelehrte Abu Ṭālib al-Makkī (gest. 386 n.H.) in seinem Werk Qūt al-Qulūb und unterteil sie in sieben Stufen, die insgesamt einen Bewusstseins- bzw. Achtsamkeitswandel darstellen.

Die erste Stufe 

Bewusstsein über die Tatsache, dass… 
…die Taten der inneren Natur ein Resultat im Jenseits hervorrufen werden. 
…der Mensch nur über das befragt werden kann, worauf er sich eingelassen hat. 
…der Mensch nur für seine eigenen Taten zur Rechenschaft gezogen wird. 
…der Mensch nicht die Strafe/den Lohn einer anderen Person bekommen wird.

Die zweite Stufe

Bewusstsein über die Tatsache, dass… 
…jede einzelne Tat einen Gegenwert im Jenseits erzeugen wird. 
…jede Verpflichtung vor Allāh ohne Einwände und mit Hingabe zu erfüllen ist.

Die dritte Stufe 

Bewusstsein über die Tatsache, dass… 
…keine Größe und Menge an Gottesdiensten ausreichend ist. 
…keine gute Tat die Erheblichkeit des Jüngsten Tages mildern kann. 
…nur die göttliche Gnade vor dem Schrecken des Jüngsten Tages helfen kann. 
…die göttliche Gnade nur durch Bemühungen erlangt werden kann.

Die vierte Stufe 

Bewusstsein über die Tatsache, dass… 
…jeder Atemzug/Moment des Lebens aufgedeckt und hinterfragt wird. 
…die drei Fragen Warum? | Wie? | Für wen? gestellt werden.

Die fünfte Stufe 

Bewusstsein über die Tatsache, dass… 
…Reue im Augenblick des Todes nichts bringen wird. 
…die Ablenkungen des Diesseits zur Reue führen werden. 
…die potenziellen Verluste nur mit dem Begriff des Todes klar werden.

Die sechste Stufe 

Bewusstsein über die Tatsache, dass… 
…alles Gute durch den Glauben zustande kommt und alle guten Taten durch die Gewissheit angetrieben werden. 
…alles an Spiel und Unterhaltung durch Mangel an Gewissheit beflügelt wird.

Die siebte Stufe 

Bewusstsein über die Tatsache, dass… 
…die Achtsamkeit nicht durch leere Hoffnung zustande kommt, sondern ganzheitliche Hingabe bedarf. 
(Feste Gottesdienste, ständige Bewusstseinsübungen, aktiver Verzicht auf unnötige Dinge, Kontrolle der Blicke, der Zunge, der Gedanken usw., Verzicht auf Übermaß und Übung des Verzichtes auf Gemütlichkeit uvm.)
…das Wertschätzen der Zeit und der Augenblicke darin liegt, dass man Augenblicke auch im Moment ihrer Erscheinung produktiv nutzt.

Diese sieben Stufen verdeutlichen einen Wandel des Bewusstseins und der Achtsamkeit gegenüber Allāh und der Verantwortung auf dieser Welt. Zusammengefasst kann man sagen, dass man sich zuerst über die innere Dimension des Menschen bewusst wird, dann das Gewicht der einzelnen Taten begreift, dann über den Jüngsten Tag reflektiert und sich darüber im Klaren wird, dass man nur mit Allāhs Gnade und nicht mit der Quantität der Taten etwas erreichen werden kann. Dann wird man über die einzelnen Momente und die Rechenschaft über diese bewusst, bis man wieder in die Gegenwart zurückkommt und sich selbst schon im Jetzt zur Rechenschaft zieht, ob man denn seine Zeit gut nutzt.

Diese Reise soll den Diener dazu anregen, von der Konsequenz seines Tuns, bis hin zur Vorstellung des Jüngsten Tages zu sich selbst zurück zu kehren und Motivation zu erlangen, um in der Gegenwart das Beste aus seiner Zeit raus zu holen.

Dafür sollte jeder seine Kapazität untersuchen und seine Zeit mit den konkreten Ausführungen des Gedenkens und der Gottesdienste füllen.

…die Allāhs gedenken im Stehen und im Sitzen und (liegend) auf ihren Seiten und über die Schöpfung der Himmel und der Erde nachdenken (und sagen): ‚Unser Herr, Du hast dieses nicht umsonst erschaffen. Gepriesen seist Du, darum behüte uns vor der Strafe des Feuers.‘“ (Sūrah Āli ʿImrān - Vers 191)

Es gibt somit folgende Formen des Gedenkens:

Gedenken mit den Gliedmaßen  Gebet 
Gedenken mit der Zunge  Preisungen, Lob, Bittgebet 
Gedenken mit dem Verstand  Nachdenken, Besinnen 
Gedenken mit dem Herzen  Betrachtung, Bewunderung

Jeder sollte seinen Tag mit regelmäßigen und zahlreichen Formen des Gedenkens ausfüllen und schmücken, so dass es nicht dazu kommt, Allāh zu vergessen oder zu verdrängen.

Möge Allāh uns von den Gedenkenden und Aufmerksamen machen. Āmīn

Das Problem bei den Meinungsverschiedenheiten im Fiqh

Kamāl ad-Dīn al-Udfuwī¹ (gest. 747 n.H.): „Bei den umstrittenen Rechtsfragen (masāʾil al-ḫilāf), zu denen kein spezifischer und definitiver ...